ISO-Standards zu lesen hat mich schon das ein oder andere Mal frustriert: Scheinbar verweist ein Standard auf den nächsten und, wie es so ist, hat man gefühlt auch nie alle Standards lizenzensiert im Zugriff. Pure Boshaftigkeit? Könnte man annehmen, aber es ist, denke ich, nicht der Fall. Vielmehr muss man die ISO-Standards als eine Art Netzwerk sehen - manche Standards stehen nebeneinander und nutzen die gleiche Struktur für unterschiedliche Aspekte (z.B. ISO 27001 und ISO 42001). Manche Standards sind Spezialisierungen, die allgemeine Prinzipien für bestimmte Anwendungsfälle konkretisieren.

Komponenten eines ISO-basierten KI-Risiko-Managements

Als eine solche Spezialisierung kann man das ISO-Risiko-Management für KI sehen, das ich heute etwas näher erläutern möchte:

  • Wie wir in unserem Artikel zu ISO/IEC 42001 gesehen haben, beschreibt dieser Standard sowohl Elemente eines KI-Management-Systems, als auch die Abläufe (Plan-Do-Check-Act, kurz PDCA). Ein Teil der notwendigen Arbeitsschritte: Das Aufsetzen eines Risiko-Managements.
  • Hier kommt der Standard ISO/IEC 23894, Information technology — Artificial intelligence — Guidance on risk management, ins Spiel.
  • Dieser wiederum ist eine Konkretisierung des Standards ISO 31000, Risk management - Guidelines, also der allgemeinen Richtlinien zum Managen von Risiken, wie sie in der großen Teilen der ISO-Welt zum Einsatz kommen.
Einordung ISO
23894
Abbildung: Einordnung von ISO/IEC 42005 – zum Vergrößern klicken

Kurz gefasst ergibt sich folgendes Bild:

  • ISO 42001 verlangt nach Management von KI-Risiken.
  • ISO 31000 beschreibt den allgemeinen Rahmen für das Management jeglicher Risiken. Risiken werden dabei als Effekte von Unsicherheit definiert, die positiv oder negativ sein können.
  • ISO 23894 detailliert, was bei KI-Risiken speziell ist.

Um nun zu verstehen, wie das funktioniert, beginnen wir am besten bei ISO 31000.

Das Framework für Risiko-Management: ISO 31000

Ein Blick in das öffentlich zugängliche Kapitel zum Scope der ISO 31001 genügt, um die drei wesentlichen Bestandteile dieses Risiko-Management-Ansatzes kennenzulernen:

  1. Prinzipien,
  2. ein Framework für die Integration des Risiko-Managements in die eigene Organisation und
  3. der Risiko-Management-Prozess im engeren Sinne.

Bei den Prinzipien handelt es sich um wichtige Leitgedanken eines effektiven Risiko-Managements. Das Prinzip Dynamic bezieht sich etwa darauf, dass das Risiko-Management eine Organisation mit sich verändernden Rahmenbedingungen (und damit auch sich ändernden Risiken) umgehen muss.

Das Framework beschreibt die Integration des Risiko-Managements im weiteren Sinne. Risiko-Management zu integrieren ist kein “One-Shot”, sondern vielmehr ein iterativer Prozess. Die Notwendigkeit, das Vorgehen anzupassen ergibt sich schon alleine aus der Tatsache, dass auch das Umfeld einer Organisation nicht statisch ist. Hinzu kommen natürlich auch Erkenntnisse aus der Praxis, die es zu berücksichtigen gilt.

Wer hier nun aufgepasst hat sieht auch schon, dass diese Gedankengänge sich auch in der ISO 42001 widerspiegeln. Den Gedanken des integrierten Risiko-Managements sieht man etwa an der Zuteilung von Rollen (ISO 42001, Kapitel 5.3). Das iterative Vorgehen ist zuletzt in der PDCA-Logik der ISO 42001 abgebildet.

Der Risiko-Management-Prozess als dritte Komponente beschreibt dann genauer das Vorgehen in der Praxis, von Identifikation, Analyse und Bewertung bis hin zur Behandlung des Risikos. Ein Blick lohnt sich in diesem Kontext auch in die Definitionen, die neben dem Risiko-Begriff selbst auch andere wichtige Konzepte beinhalten, etwa das Konzept des Risk Appetites einer Organisation, also dem Willen, Risiken auf sich zu nehmen. Die Definitionen in der ISO 31000 fallen etwas kurz aus. Einen ausführlichen Überblick über alle relevanten Begriffe - Hilfe naht mit ISO 31073. Dieser Definitionsstandard ist auch größtenteils kostenlos einsehbar.

Jeder Schritt des Prozesses wird erläutert. Viele Details und Templates bleiben im Standard (wie so oft) nicht detailliert ausgeführt. Allerdings existiert einiges an hilfreicher Literatur zu den Methoden (wie etwas Risikomanagement von F. Romeike, sowie viele Ratgeber für Sektoren spezifisches Risiko-Management.

Am Ende, und das kann man als Stärke, wie Schwäche sehen, versucht die ISO mit diesem Standard ‘den ganz großen Rahmen’ zu spannen.

Risiko-Management für KI mit ISO 23894

Wenn wir also die Struktur und Intention der ISO 31000 verstanden haben, stellt sich die Frage: Wie passt KI da hinein?

Diese Lücke versucht nun ISO 23894 zu füllen. Wie macht der Standard das? Nun, eigentlich kann man ihn fast ein bisschen wie ein Add-On zu ISO 31000 begreifen: Die drei Komponenten der ISO 31000, Prinzipien, Framework und Prozess, werden fast schon kommentarartig ergänzt um Aspekte, die im Kontext der KI besonders wichtig sind.

Das oben genannte Prinzip Dynamic wird so etwa im Kontext der KI nochmals genauer ausdetailliert. Denn, darauf weist ISO 23894, KI-Systeme sind selbst besonders dynamisch durch kontinuierliches Training oder aber auch das dynamische Umfeld (z.B. auf die Gesetzgebung bezogen), in dem Sie eingesetzt werden.

Dieses einfache Beispiel illustriert die Funktion von ISO 23894 als eine Sammlung von Ergänzungen und Hinweisen zu jedem einzelnen Punkt des allgemeinen Frameworks nach ISO 31000. Einige der aufgeworfenen Themen, wie etwa die dynamische Natur von KI als Technologie, werden KI-Experten nicht überraschen. Insofern sollte man ISO 23894 auf zwei Ebenen als Hilfestellung sehen:

  • Wer sich mit Risiko-Management auskennt, aber noch wenig Erfahrung mit KI hat, erhält viele Hinweise zu möglichen Knackpunkten, die sich aus der Technologie ergeben.
  • Wer sich sowohl mit Risiko-Management, als auch mit KI auskennt, der lernt vielleicht nichts grundsätzlich neues - allerdings kann ISO 23894 dann immer noch als eine gute, standardisierte Checkliste mit wichtigen Aspekten im KI-Risiko-Management dienen.

Risiko-Management in der ISO 42001

Das Roll-Out eines KI-Management-Systems nach ISO 42001 kann man in sich selbst als eine Maßnahme der Risiko-Behandlung sehen: Es beinhaltet die Abläufe und die organisatorischen Elemente, die notwendig sind, um KI (und die sich aus ihr ergebenden Risiken) zu managen. Das umfasst sowohl die Etablierung des Systems selbst (was dem Framework-Gedanken entspricht), als auch die Durchführung des konkreten Risiko-Managements – jeweils geleitet von übergeordneten Prinzipien.

Der Prozess, Risiken zu identifizieren, zu analysieren, zu bewerten und zu behandeln (z.B. durch die Etablierung wirksamer Kontrollmechanismen) ist dabei zentral (vgl. ISO 42001, Abschnitt 6.1). Über die ISO 23894 wird konkretisiert, wie dieser Prozess des Risiko-Management im Detail abläuft.

Zusammenfassung und Einschätzung

Ich hoffe dieser kurze Überblick ist hilfreich um zu verstehen, wie in der ISO Welt Standards verkettet sind - man könnte fast sagen, wie sie funktionale Einheiten bilden. Wir haben gesehen, dass das allgemeine Risiko-Management aus ISO 31000 sich auf verschiedene Arten in ISO 42001 wiederfindet (PDCA, Risiko-Management-Anforderungen) und wie die ISO 23894 die Brücke schlägt.

Manchmal ist das nicht leicht zu verstehen, denn wer nur ISO 23894 aufschlägt, der wird vielleicht erstmal verwirrt sein: Wie beschrieben findet man hier im Wesentlichen Hinweise und Ergänzungen zur ISO 31000. Daher empfiehlt es sich, systematisch vorzugehen:

  • Wer vom Risiko-Management kommt und in die KI einsteigen will, der wird ISO 31000 vielleicht schlicht in Verbindung mit ISO 23894 lesen und findet einen guten Überblick über die “KI-Knackpunkte”.
  • Wer von der Technik her kommt, der liest besser ISO 31000 vorab und erst im zweiten Schritt in Verbindung mit ISO 23894. Hat man 31000 erst einmal verstanden, so werden KI-Experten vieles aus der ISO 23894 als logisch, wenn nicht gar naheliegend, empfinden.

Auf jeden Fall hat es die ISO geschafft, hier zwischen generischem Risiko-Management und KI eine erste Brücke zu schlagen. Das reicht natürlich nicht. Denn KI ist eine Technologie und die Risiken von KI in der Medizinbranche und in sozialen Netzen können sich doch auch stark unterscheiden.

Allerdings: Es ist ein Start, der Experten von beiden Seiten hoffentlich den Einstieg erleichtert.