Harmonisierte Standards und KI - Warum der Hype?
Mit dem AI Act ist zum 02. August 2024 die umfangreiche KI-Reglierung der EU in Kraft getreten. Die enthaltenen Auflagen kommen dabei stufenweise zur Anwendung.
Hier kommen auch schon der Begriff des Harmonisierten Standards ins Bild, der fast schon als Buzz-Word der KI-Regulierung gesehen werden kann. Aber was steckt eigentlich hinter diesem etwas sperrigen Begriff?
Was sind harmonisierte Standards?
Harmonisierte Standards sind ein Werkzeug im Kontext von EU-Gesetzgebung. Sie erleichtern es Organisationen, die Konformität mit EU-Regulatorik nachzuweisen. Man könnte es vereinfachend zusammenfassen als Standard-Konformität=Gesetzes-Konformität.
Wie entsteht ein harmonisierter Standard? Zunächst stellt die EU-Kommission eine Anfrage zur Entwicklung des Standards an eines oder mehrere der europäischen Standardisierungsgremien (CEN, CENELEC oder ETSI). Diese entwickeln entsprechende Standards, welche dann noch “den Stempel” der EU-Kommission in Form einer offiziellen Veröffentlichung im Amtsblatt benötigt.
Verwendet ein Produkthersteller einen harmonisierten Standard, so wird die Gesetzeskonformität angenommen. Ein Nachweis kann bspw. durch eine Zertifizierung gegen den Standard erfolgen.
Der Einsatz eines harmonisierten Standards ist nicht verpflichtend. Allerdings kann der Aufwand, Gesetzeskonformität nachzuweisen wesentlich höher sein.
Kurz am Beispiel erläutert: Eine Firma, nennen wir Sie Acme Inc., vertreibt ein Produkt in der EU. Die deutsche Aufsichtsbehörde tritt an Acme Inc. heran und bittet um Nachweis, dass die entsprechende EU-Produktsicherheits-Richtlinie erfüllt ist. Acme Inc. ist zuversichtlich, denn die Entwicklung wurde gemäß dem Standard Super-S durchgeführt und zertifiziert.
Hier ergeben sich nun zwei Szenarien:
- Der Standard Super-S ist ein harmonisierter Standard der EU: Die Aufsichtsbehörde erhält das Zertifikat und geht daher davon aus, dass das Produkt auch konform mit der entsprechenden Richtlinie ist.
- Der Standard Super-S ist kein harmonisierter Standard: Die Aufsichtsbehörde erhält das Zertifikat. Der Sachbearbeiter äußert jedoch Zweifel, ob das Verfahren nach Super-S wirklich alle Vorgaben der EU-Richtlinie berücksichtigt. Acme Inc. muss daher detailliert darlegen, wie der Standard die Richtlinie erfüllt.
Es wird deutlich: Die Verwendung eines harmonisierten Standards reduziert Aufwand und Risiko erheblich. Das Verfahren um Gesetzeskonformität zu erreichen ist klar definiert, der Nachweis ist einfacher.
Warum sind sie für KI besonders relevant
Im Kontext des AI Acts wird besonders gespannt auf die Inhalte der Standards gewartet.
Ein offensichtlicher Grund dafür dürfte sein, dass wir im Bereich KI in einem sehr neuen, dynamischen Umfeld sind. Die Auflagen für hoch-riskante KI-Systeme sind hoch, der Erfahrungsschatz gering.
Insofern hoffen Organisationen auf dringend notwendige Orientierung, um Rechtssicherheit zu erhalten. Daneben besteht sicher auch der Wunsch zu verstehen, wie die Konformität mit angemessenem Aufwand operationalisierbar ist.
Status quo bei den harmonisierten KI-Standards
Die EU-Kommission hat in ihrer Standardisierungs-Anfrage Arbeit zu zehn Themenbereichen angefordert:
- Risk Management Systems (Risiko Management)
- Governance and Quality of Datasets (Daten-Governance und -Qualität)
- Record Keeping (Aufzeichnungspflichten)
- Transparency and Information Provisions (Transparenz und Informationsbereitstellung)
- Human Oversight (Beaufsichtigung von Systemen)
- Accuracy Specification (Präzision)
- Robustness Specification (Robustheit)
- Cybersecurity Specification (Cyber-Sicherheit)
- Quality Management, incl. post-market Monitoring (Qualitätskontrolle)
- Conformity Assessment
Die Anfrage wird im Rahmen des Joint Technical Committees 21 (JTC 21) von CEN und CENELEC bearbeitet. Im April 2025 erklärten CEN-CENELEC, dass die Standardisierung sich verzögern werde. Demnach werden die Standards frühestens in 2026 zur Verfügung stehen, wobei im Laufe des Jahres Entwurfsstände für die weitere Überarbeitung und Abstimmung veröffentlicht werden sollen.
Dies erzeugt natürlich Unsicherheit, denn die finale Stufe des AI Acts wird im August 2026 in Kraft treten. Sogar wenn wir von einer Veröffentlichung der Standards vor diesem Termin ausgehen, ist die Zeit für eine Umsetzung oder gar Zertifizierung mehr als knapp.
Chancen und Herausforderungen
Mit dem Mechanismus der harmonisierten Standards möchte die EU den Firmen ein Werkzeug an die Hand geben, das Rechtssicherheit erzeugt und einen fairen Zugang zum Binnenmarkt. Das ist ein zu begrüßendes Ziel.
Gute Standards können hier entscheidende Vorteile haben:
- Sie ermöglichen eine effiziente Umsetzung innerhalb von Firmen.
- Sie schaffen Rechtssicherheit und einen fairen Marktzugang.
- Sie etablieren ein gleichwertiges Schutzniveau.
Ein Blick auf den gewählten Ansatz und die Zeitleiste zeigt allerdings auch die mögliche Schwäche dieses großen Unterfangens:
- Die Zeit ist knapp und Standardisierung ist ein sehr inklusiver Prozess, der Zeit benötigt. Es besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse eher minimale Kompromisse sind und wenig praktische Tiefe haben.
- KI ist eine sich dynamisch entwickelnde Technologie. Der erste Entwurf des EU AI Acts erschien fast zwei Jahre vor der Einführung von ChatGPT. Regelungen zu LLMs waren nicht enthalten. Bei der Standardisierung sehen wir ebenfalls einen längeren Prozess mit dem Risiko, dass neuere Entwicklungen nicht erfasst werden können. Es besteht also auch hier ein Risiko, dass Standards zu rigide sind (und damit Innovation einschränken) oder aber zu high-level (und damit wenig umsetzbar bzw. effizienzsteigernd).
Fazit: Was bedeutet das für die Praxis
Wie gezeigt bietet Standardisierung Vorteile, von Effizienz zu Rechtsicherheit. Die harmonisierten Standards können hier ein mächtiges, hilfreiches Werkzeug sein. Mir persönlich erscheint das europäische Standardisierungsprojekt zum AI Act allerdings sehr riskant: Die Zeitleiste ist knapp und das Risiko hoch, dass die Standards ggf. nicht die gewünschte Tiefe aufweisen.
Durch das Warten auf die Standards der EU wird auch ein Stück weit die Hoffnung genährt, dass mit der Veröffentlichung “alles klar sein wird”. Das ist sehr wahrscheinlich allerdings nicht der Fall und Unternehmen verlieren wertvolle Zeit.
Der Ratschlag an alle Unternehmen, die sich mit KI intensiv befassen oder gar Hochrisiko-Anwendungen entwickeln kann daher nur lauten: Bereits jetzt auf Basis existierender Ansätze (Standard, Best Practices) tätig werden und die geforderten Komponenten wie Risiko-Management, Qualitätssicherung und co. gezielt angehen.